Anders zu sein als die meisten anderen Menschen in deiner Umgebung, z.B. in deinem Team, Unternehmen oder dem Verein kann anstrengend und anregend zugleich sein. Seit Jahrtausenden ist es wichtig fürs Überleben, dass eine Gruppe das Individuum annimmt, ihm Schutz gibt. Andererseits entsteht Veränderung nur, wenn jemand bereit ist, einmal etwas anders zu machen, auszuprobieren, ob es nicht einfacher oder effizienter geht. Das weiß auch die Gruppe (die Sippe), in der wir aufwachsen und leben. Hier geht es also um einen Kompromiss, bei dem es um die Frage geht: Wie anders darf jemand sein, damit er/sie noch in der Gemeinschaft akzeptiert wird.
Artig zu sein ist ein Begriff, den ich aus meiner Kindheit kenne. Ich sollte immer schön artig sein, keinen Ärger machen und schön das tun, was die Erwachsenen mir gesagt haben. Schließlich wissen sie es aus eigener Erfahrung besser. Als Kind fehlt diese Lebens-Erfahrung, jedoch lernen geht aus eigener Erfahrung viel besser als nur von Hören-Sagen. Viel wichtiger ist jedoch die Situation, dass die Fähigkeit und wohl auch die Bereitschaft neue Wege auszuprobieren mit größer werdender Lebenserfahrung sinkt. Schließlich hat man einen Weg gefunden, wieso also einen zweiten suchen.
Der Verstand ruft dazwischen: Bloß nichts ändern, solange das alte funktioniert. Aufwandsminimierung und maximal Überlebenschance sichern. Geändert wird erst, wenn es nicht mehr anders geht. Schön artig bleiben, dann geht weniger schief und es lieben dich auch die meisten anderen Menschen.
Bekannt ist auch das Zitat von (REF): Wir haben nicht geglaubt, dass es einen anderen Weg gibt, bis jemand kam, der das nicht wusste und es anders gemacht hat. Junge Menschen sind oft in dieser Situation und finden mit Freude, spielerisch neue Wege, welche die alten Hasen dies als nicht machbar abgestempelt haben. Es ist also wichtig, nicht immer „artig“ zu sein. Sei es aus Unwissenheit oder auch aus Freude am Abenteuer und Entdecken.
Beide Haltungen erscheinen logisch und auch sinnvoll. Es leuchtet ein, dass ein wenig anders hier und da sinnvoll ist, um nicht erst im letzten Moment unter Druck und Eile etwas Neues auszuprobieren. Ich nenne das: Die Veränderungsfähigkeit trainieren. Hierbei geht es darum die Fähigkeit zu erhalten etwas anders zu machen. Um der Veränderungsfähigkeit willen etwas Neues ausprobieren und herauszufinden, wie es tatsächlich anders geht. „Fit for Change“ könnte die Parole heißen.
So weit so gut. Wie kann man das nun nutzen? Anders zu sein ist alles andere als eine fixe Größe, sondern vielmehr eine Skala von wenig bis viel. Um das anschaulich zu beschreiben, benutze ich in Veränderungsprojekten gern die Skala der Andersartigkeit. Diese Skala unterscheidet 7 verschiedene Stufen und deren Wirkung auf das Umfeld. Zu jeder Stufe erkläre ich den Zustand, wieso es sie gibt und wie du mit Menschen, auf dieser Stufe umgehen kannst.
Die Stufe 0 ist der Blockierer, jemand der aktiv verhindert, dass eine Veränderung passieren kann. Solche Blockierer benutzen gern Killerphrasen wie: „Das haben wir bereits alles ausprobiert“ oder „Damals ist etwas sehr ähnlich tierisch schiefgegangen. Das will jetzt niemand wiederholen“. Dahinter steckt oft große Angst vor einem möglichen Schaden, vielleicht bereits durchgemachten Ärger oder entgangene Anerkennung für eigene Versuche in der Vergangenheit. Was hilft ist: aktives ruhiges zuhören und gezielt Rückfragen zur Präzisierung. Ganz wichtig: Die Killerphrasen nicht zulassen. Fragen wie diese können Wunder bewirken: „Woher weißt du, dass es in diesem Fall auch nicht geht“ oder „Was müsste anders sein, damit es nun geht“. Auch Wertschätzung für vergangene Leistungen kann hier das Eis brechen.
Die Stufe 1 ist der Bewahrer. Dieser Typ von Andersartigkeit ist nicht generell gegen Veränderung. Ihm/Ihr ist es wichtig, dass nicht alles gleichzeitig verändert wird und jenes bewahrt wird, was sich bewährt hat. Dies ist eine sehr gesunde, wenngleich auch passive Haltung. Oft geht es jedoch nur darum Teile zu erneuern und nicht das gesamte Unternehmen auf den Kopf zu stellen. Was hilft ist dieses: Was gilt es zu bewahren? Was soll erhalten bleiben? Auf welcher soliden Basis darf etwas Neues entstehen. Was genau kann das sein?
Auf Stufe 2 dieser Skala finden wir den Verbesserer. Verbesserer sind täglich damit beschäftigt Dinge zu verbessern. Jeden Tag einen kleinen Schritt – gemäß dem japanischen Credo Kaizen = täglich etwas besser werden. Verbesserer Typen haben ein gutes Gespür für die nächsten kleinen Schritte. Wie ein Spürhund nehmen sie ihre Umgebung wahr und können solche Stepps beschreiben. Sie können oft auch gut erklären, wie der verbesserte Zustand aussehen wird und was es bringt. Das ist wichtig, um die notwenigen Entscheidungen herbeizuführen. Denn zur Umsetzung dieser Schritte ist Aufwand (z.B. Geld oder Zeit) erforderlich. Und auch wenn diese Schritte klein sind, so sind sie nicht ohne Risiko. Es kann etwas schiefgehen. Je kleiner dieser Schritte desto leichter kann dieses Risiko abgeschätzt werden. Der Vorteil dieser Stufe: Es verändert sich von selbst und es geht voran. Der Nachteil: Die Schritte sind so klein, dass es oft nur in Babyschritten vorangeht. So werden oft lieber 10 Projekte mit 0,2% Verbesserung betrieben als 1 Projekt mit 5% und 3 weitere mit 0,5%. Die Herausforderung liegt hier in der richtigen Balance in Richtung „größer Denken“ und mehr Risiken einzugehen.
Kommen wir nun zu meinen zwei Lieblingsstufen auf der Skala der Andersartigkeit. Auf Stufe 3 befindet sich der Impulsgeber. Der Impulsgeber stellt gute Fragen und öffnet Horizonte. Ein Impulsgeber ist jemand, der zum Nachdenken anregt und dabei hilft, eine Situation aus einer völlig anderen Perspektive zu betrachten. „Was wäre, wenn …“ diese Art der Fragestellung führt nicht immer zu spontanen Begeisterungsstürmen. Manche Gesprächsteilnehmer fühlen sich unangenehm ertappt oder gar vorgeführt, was nicht die Intention des Impulsgebers ist. Der Impulsgeber unterstützt dabei ausgetretene Pfade und gewohnte Abläufe ernsthaft zu hinterfragen. Der Impulsgeber sorgt auch dafür lange genug und intensiv genug über Alternativen nachzudenken und Lösungen auszumalen, so dass ein erster Geschmack des Neuen entsteht. Wer sich einige Zeit, Tage oder Wochen, regelmäßig mit solchen geänderten Szenarios beschäftigt, der öffnet viele Türen und erkennt neue Wege. Wer das tut, kann danach nicht einfach so weitermachen wie zuvor, denn die Neuigkeiten erzeugen eine gewisse Sog-Wirkung und die Ideen werden ab dann immer wieder auftauchen. Ich selbst bin dafür bekannt, dass ich als Impulsgeber auftrete und werde gerade deswegen auch gebucht. Wichtig beim Impulsgeben ist es Horizonte zu öffnen, die Teilnehmer tatsächlich eintauchen zu lassen in ein neues Szenario und dabei den Glauben zu wecken, dass es auch anders gehen könnte. Der Impulsgeber übergibt die Umsetzung an die nächste Stufe.
In dieser Stufe 4 sind wir beim „kreativen Zerstörer“ angekommen. Ein kreativer Zerstörer ist jemand, der mit sehr viel Kreativität etwas völlig Neues aufbaut. Dabei wird „das Alte“ bewusst zerstört und aus den Trümmern etwas ganz Neues errichtet. Manchmal ist es besser und auch einfacher, die alten Strukturen abzureißen damit Platz für wirkliche Neuerungen sind. Manch einer kennt das vom Renovieren einer Immobilie oder auch von Organisationen. Solange bisherige Strukturen wie Pfeiler stehen bleiben, muss immer um dieser herumgebaut werden. Allzu groß ist die Versuchung größere Teile des alten doch noch zu erhalten und doch nur ein wenig Neues zuzulassen. Erstmal schauen, ob es nicht doch noch wie bisher geht. Und das mag sogar funktionieren. Doch genau hier liegt die Gefahr, zu lange am bisherigen Vorgehen festzuhalten und dringend notwendige Neuerungen nicht zu erlernen. Das kann auch ein paar Anläufe brauchen, bis es klappt. Der kreative Zerstörer beginnt tatsächlich mit dem Abriss des alten, der Kündigung der Verträge und baut dann, wenn nichts mehr da ist, das Neue von Grunde neu auf – auf der grünen Wiese. Hier stecken viele Chancen und natürlich auch Risiken. Ich habe das persönlich mehr oder weniger freiwillig im Leben erfahren. Der Moment des Abbruches war unangenehmen und auch mit Wehmut und Abschiedsschmerzen begleitet, was auch gut ist. Einige Zeit später habe ich mich sagen hören: „Gut, dass es sich ereignet hat.“ Oder auch: „Schade, dass ich das nicht früher gemacht habe!“ So ist der kreative Zerstörer eines der mächtigsten Werkzeuge im Veränderungs-Management. Mit Mut und etwas Vorlauf entsteht so viel wunderbar Neues, was mit kleinen Schritten viele Jahre oder Jahrzehnte gedauert hätte. Auf die richtige Dosis kommt es an. Es geht nicht drum blind alles zu zerstören, sondern gezielt und entschlossen vorzugehen.
Die Stufe 5 schließlich beschreibt den Missionar und die Stufe 6 den Eremiten. Der feine Unterschied liegt darin, dass der Missionar noch öffentlich auftritt und massive Veränderungen predigt und der Eremit sich bereits zurückgezogen hat. Beide bewirken wenig, denn das Maß der Veränderung, welches sie einfordern ist für die meisten Menschen (zu diesem Zeitpunkt) zu hoch oder unvorstellbar. Viele Missionare werden leider früher oder später müde. Einige wenige schaffen es eine Stufe zurückzugehen zum kreativen Zerstörer und auszuhalten, dass sich manches radikal verändern lässt aber auch vieles erhalten bleibt. Andere geben auf und werden zu Eremiten, die sich zurückziehen, um früher oder später aus dem Leben zu treten – freiwillig oder unfreiwillig. Jahre(zehnte) später zeigt sich dann die wahre Weisheit und die Masse der Menschen beginnt sich zu verändern. Missionare sind wichtig für Veränderungsprozesse und jeder ist gut beraten ihnen zuzuhören und Wege zu finden auf einer der unteren Stufen die Idee schrittweise umzusetzen.